Von ständigen Unterbrechungen lahm gelegt

Von ständigen Unterbrechungen lahm gelegt

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Unter Marihuana-Einfluss schnitten Testpersonen bei IQ-Tests besser ab als bei Störungen durch Telefon und E-Mails

Während man in einer Besprechung sitzt, klingelt das Telefon. Der Kollege dessen Rückruf man schon gestern erwartet hatte. „Hallo, ich bin gerade in einer Besprechung, kann ich Sie am Nachmittag zurückrufen? Oh, wo brennt’s denn?“ Derweil nutzen die Anwesenden die Gelegenheit, Ihre E-Mails auf Ihren Mobiltelefonen zu checken und ggf. gleich zu beantworten. Zurück zum Thema, wo waren wir stehen geblieben? Das Meeting hat länger gedauert als geplant, also schnell zurück an die Arbeit. Auf dem Flur begegnet einem die Buchhalterin. Bitte noch die Rechnung für die Konferenz im September einreichen. Gedanklich notiert, weiter Richtung Schreibtisch. Eine Haftnotiz von der Empfangsmitarbeiterin „Paket angekommen, bitte abholen“. Das Telefon auf dem Tisch zeigt zwei verpasste Anrufe, im Posteingang liegen ungeöffnete E-Mails. Kleinigkeiten beantwortet man sofort. Was stand doch gleich auf der eigentlichen To-Do-Liste?

Ständige Unterbrechungen machen unproduktiver als Marihuana-Konsum

So oder so ähnlich sieht der Arbeitsalltag von vielen aus. Die meisten bemerken gar nicht, wie oft sie von ihrer eigentlichen Aufgabe abgelenkt werden. Dabei bleibt der schleichende Prozess der Machtergreifung von E-Mails, Anrufen, Skype-Nachrichten – eben der ständigen Unterbrechungen und der „Kleinigkeiten“, die man mal schnell dazwischenschiebt – längst nicht mehr ohne Folgen.

Schon im Jahr 2005 belegte der Londoner Psychologe Dr. Glenn Wilson in einer Studie, dass Testpersonen, die während eines IQ-Tests von Telefonklingeln und ankommenden E-Mails unterbrochen wurden, durchschnittlich 10 Punkte weniger erreichten als die Vergleichsgruppe, die sich voll auf den IQ-Test konzentrieren konnte. Auffällig war auch, dass diejenigen, die den Störungen ausgesetzt waren, verglichen mit den Testpersonen ohne Unterbrechung von außen, ungefähr doppelt so hohe Werte für ihr individuell empfundenes Stresslevel angaben.

Erschreckend sind diese Ergebnisse auch im Hinblick auf vergleichbare Studien, in denen Testpersonen IQ-Tests unter Marihuana-Einfluss absolvierten. Diese Personen erreichten in den IQ-Tests etwa 8 Punkte weniger als die Vergleichsgruppe. Sie schnitten damit also sogar besser ab, als diejenigen, die durch Telefon und E-Mails gestört wurden.

 

Nur 11 Minuten bis zur nächsten Unterbrechung

Nun ist es natürlich denkbar schwer, das Ausmaß der täglichen Arbeitsunterbrechungen verlässlich zu quantifizieren, aber die Wissenschaftler Mark, Gonzalez und Harris von der University of California unternahmen trotzdem einen Versuch und dokumentierten den Arbeitsalltag von 24 Angestellten mit der Stoppuhr. Die Mitarbeiter hatten nur etwa 11 Minuten, um konzentriert an einer Aufgabe zu arbeiten, bevor sie unterbrochen wurden. Erst nach 25 Minuten konnten sie wieder zur ursprünglichen Aufgabe zurückkehren und hatten sich in der Zwischenzeit durchschnittlich mit 2 weiteren Themen beschäftigt. Zieht man nun noch in Betracht, dass die Mitarbeiter rund 8 Minuten brauchten, um zur vollen Konzentration auf eine Aufgabe zurückzukehren, offenbart sich das absurde Ausmaß dieser fragmentierten Arbeitsweise. Denn gemäß den Ergebnissen der Kalifornischen Wissenschaftler blieben dann nur noch 3 Minuten bis zur nächsten Unterbrechung.

 

Produktivitätseinbußen kosten die USA ca. $650 Milliarden pro Jahr

Schätzungen zufolge kostet das sogenannte Multitasking allein die amerikanische Wirtschaft rund $650 Milliarden pro Jahr. Und diese Tendenz wird sich vermutlich in den kommenden Jahren weiter verstärken. Denn selbst die letzten Domänen der Unerreichbarkeit verschwinden. Selbst auf einigen Langstreckenflügen ist heute bereits Internetnutzung möglich. Bald könnte das Internet bei allen Airlines zum Standard gehören. Der „Bring Your Own Device (BYOD)“ Trend fördert die ständige Erreichbarkeit zusätzlich. Auch im Privaten kann sich heute kaum noch jemand auf ein Gespräch konzentrieren, ohne regelmäßig auf sein Mobiltelefon zu schauen. Wo waren wir nochmal stehen geblieben?

 

Unternehmen sind verunsichert, Lösungen fehlen

Immer wieder machen Unternehmen Schlagzeilen, die – an heutigen Maßstäben gemessen – unkonventionelle Wege gehen, um die Produktivität ihrer Mitarbeiter wieder zu steigern, dabei den Stresslevel ihrer Angestellten zu senken und der Diktatur der Unterbrechungen ein Ende zu setzen. Amerikanische Firmen haben es vorgemacht und auch deutsche Unternehmen beginnen damit, E-Mail-freie Tage einzuführen. Die Maske AG in Hamburg, die sich mit Auto-Leasing einen Namen gemacht hat, war hierbei einer der Vorreiter. Leider liegen uns keine Informationen darüber vor, welche Erfahrungen das Unternehmen damit sammeln konnte und ob es am E-Mail-freien Tag festgehalten hat. Anders bei Evonik. Das Unternehmen hatte bereits 2013 eine Initiative gestartet, mit deren Hilfe individuelle Vereinbarungen über die Erreichbarkeit zwischen Mitarbeiter und Vorgesetzten getroffen werden sollten. Evonik zieht nach einem Jahr eine positive Bilanz. Das E-Mail-Aufkommen am Wochenende und in der Nacht habe sich deutlich reduziert.

Um der Überlastung der Mitarbeiter, die aus der Arbeit im „Störfeuer“ allzu häufig resultiert, entgegen zu wirken, schaffen z.B. Virgin, Netflix und Evernote formale Urlaubsregelungen ab. Bei diesen Unternehmen können Mitarbeiter Urlaub nehmen, wann und so lange sie wollen. Ohne Urlaubsantrag und lange Absprachen. Dass dieser Ansatz nicht unumstritten ist, liegt auf der Hand. Man appelliert schließlich an das Verantwortungsbewusstsein der Mitarbeiter. Urlaub nehmen sollen sie nur dann, wenn die Arbeit erledigt und sie für die geplante Urlaubszeit entbehrlich sind. Unter diesen Bedingungen wird sich wohl eine Reihe von Mitarbeitern überhaupt nicht mehr trauen, Urlaub zu nehmen.

Und a propos Urlaub: Daimler geht sogar noch einen Schritt weiter. Mitarbeiter können dort ihre E-Mails während des Urlaubs komplett löschen lassen. Der Absender erhält in diesem Fall eine automatische Abwesenheitsnotiz mit den Kontaktdaten der entsprechenden Vertretung. So kommen Daimler-Mitarbeiter gar nicht erst in Versuchung, während ihres Urlaubs geschäftliche E-Mails zu lesen und ihr Posteingang ist nach ihrer Rückkehr nicht völlig überfüllt. Wettbewerber Volkswagen bekämpft das Problem indessen mit einer Zwangs-E-Mail-Pause nach Feierabend. Ab einer festgelegten Uhrzeit werden einfach keine E-Mails mehr zugestellt.

Die Vielzahl der Maßnahmen und die Tatsache, dass sich bisher keine davon wirklich durchsetzen konnte, zeigen, dass echte Lösungen bisher fehlen. Immerhin scheinen viele Unternehmen das Problem erkannt zu haben und nehmen die Fragmentierung des Arbeitsalltages nicht mehr einfach hin. Diesen Weg sollten wir konsequent verfolgen. Und übrigens: Konnten Sie diesen Artikel ungestört bis zu Ende lesen?